Engel über Seen singen
Dunkel lag der zugefrorene See unter dem bewölkten Nachthimmel. Das leicht überzuckerte Eis war durchbrochen von den Fußspuren eines Menschen. An den Stellen, die frei von Schnee waren, spiegelte sich das Licht des Mondes, der hinter den Wolken hervorlugte. Wer wohl über den See gegangen war? Welche Geschichte erzählte das Reh, das dort am Ufer stand, vielleicht dieselbe Frage zurückstellend? Man könnte ihm einen leicht säuerlichen Gesichtsausdruck andichten, wenn man es vermenschlichen mochte. Doch da spielte das Reh nicht mehr mit und verlor sich mit ein paar Sprüngen in der Wildnis des hinter dem Ufer aufragenden Waldes. Kein Windhauch regte sich und wie in dem bekannten Weihnachtslied lag alles still. Von weit her konnte man die Melodie einer eingängigen Weise vernehmen.
Folgte man den Fußspuren, so wurden diese zunehmend tiefer und klarer. Und plötzlich am anderen Ufer des Sees klang ein klarer Ton und der Anfang einer Melodie durchbrach das stille Bild — und da, ein Licht! Und noch eines!
Die Lichter hatten sich um eine Öllampe versammelt, während die Leuchtenden die Hände zusammenhielten. Jeder machte sich still seine Gedanken über den Winter und das Leben. Trist und trüb lagen die nächsten Tage vor ihnen— was würde werden? Weitab von ihren Familien und warmen Stuben mussten sie die Herden weiden. Sie alle machten sich tiefgründige Gedanken über den Sinn des Lebens jener Tage und keiner schaffte das Leben so unbeschwert zu leben, wie es die Schafe taten. Plötzlich aber erschien eine helle Gestalt, die sprach: "Fürchte euch nicht! Vor hundert Jahren ist uns der Heiland geboren und dieses Ereignis wiederholte sich jedes Mal am Weihnachtsabend. Jedes Jahr werden wir Engel ausgeschickt, die frohe Botschaft zu verkünden. Jesus ist auch bei euch!“ Geblendet vom Licht des weißen Engels - denn was sollt es sonst sein - kniffen die Hirten ihre Augen zu. Als sie es wagten wieder aufzublicken, sprach einer von ihnen: „Aber das ist doch schon ewig lang her. Was soll uns das jetzt nützen?“ Der Engel ließ sich Zeit mit seiner Antwort: „ Hmm. Wer auch immer in Not ist, Jesus wird ihm helfen und wir Engel sind seine Ausgesandten. Blickt unter euch und ihr werdet es sehen.“ Als die Hirten herabblickten, sahen sie das Eis zu ihren Füßen brechen. Verzweifelte Schrei durchstießen die Stille der Nacht. Doch keiner der Männer bekam auch nur einen Tropfen Wasser ab.
Das Eis auf dem sie standen blieb wie durch ein Wunder ganz und schwebte in die Luft. Mit einem Flopp verschwand der himmlische Bote und die Nacht war so dunkel wie zuvor. Starr und reglos standen die Hirten auf der Eisplatte, die durch die Nach schwebte, einem unbekannten Ziel entgegen.Ängstlich und blökend scharrten sich die Schafe um ihre Hirten. Sie hätten die Menschen um ein Harr mit ihren felligen Leibern erdrückt, wenn die Eisplatte nicht plötzlich über einem Dorf gestoppt hätte. Schmelzend sank die Eisfläche mit ihren Passagieren auf den staubigen Grund. Hell erleuchte vom Schein eines riesigen Feuers stand die Gruppe auf dem Hauptplatz des Dorfes. Im Widerschein der Flammen tauchten menschliche Schemen auf, die näher auf die ungebetenen Ankömmlinge zutraten. In Erwartung ihrer Strafe für das Lästern Gottes harrten die Hirten starr im Schein des Feuers.
Wie überrascht waren sie jedoch, als ein Mann aus der Menge auf sie zutrat und sprach: „Willkommen, Fremde! Gott muss euch mitsamt euren Schafen zu uns geführt haben! Denn wir haben heute ein Fest zu feiern und Essen und Trinken ist uns ausgegangen. Doch der Herr ist mit uns , er hat uns zur Feier des Festes alles geschickt, was wir brauchen.“ „Das heißt, ihr wollt uns die Schafe abkaufen? Alle?“ Verständnislos antwortete der älteste Hirte dem Mann, der offenbar einer der Anführer des Dorfes war. „Ja genau. Und der Preis soll nicht zu eurem Nachteil entfallen.“ Die Hirten erhielten für ihre Tiere so viel Geld, dass ihr Überleben für die nächste Zeit gesichert war. Von so viel Geld, hätten sie nie zu träumen gewagt. Ein Teil der Schafe wurde auf die Stelle geschlachtet und über dem Feuer gebraten. Musik spielte und die Leute tanzten auf dem großen Platz. Auch die Hirten wurden zum Fest eingeladen und nahmen im Kreis der Dorfbewohner Platz. Hungrig, aber doch mit so unwirklichen Gefühl, schlugen sie ihre Zähne in das saftige Fleisch.Irgendwann fragte ein Hirte seinen Banknachbarn: „Sagt einmal, was feiern wir denn heute?“ „ Heute? Aber wir feiern doch die Geburt Jesu Christ vor hundert Jahren in Bethlehem.“