Einst vor 70 Jahren
Es war der Morgen des 24. Dezember, und die kleine Stadt Fleischbank war mit einer Schicht aus glitzerndem Eis überzogen. Die Sonne spiegelte sich in den gefrorenen Pützen, und die Kirchenglocken läuteten sanft in der Ferne.
Emma, die in der Redaktion der Fleischbanker Zeitung arbeitete, hatte noch einen letzten Artikel zu schreiben, bevor sie in die Feiertage starten konnte. Die Titelseite der Weihnachtsausgabe war fast fertig, nur eine kleine Rubrik fehlte: die „Wunder der Weihnachtszeit“. Emma war bekannt für ihre einfallsreichen Geschichten, aber heute wollte ihr einfach nichts einfallen. Sie starrte auf die leere Seite, als plötzlich ein schrilles Klingeln die Tür des Büros öffnete.
Herein trat ein Mann in einem langen, schneeweißen Mantel. Seine Haare leuchteten wie reiner Schnee, und seine Augen hatten einen warmen, goldenen Schimmer. „Entschuldigen Sie,“ sagte er mit einer Stimme, die so sanft war wie eine Melodie, „ich habe diese Zeitung gefunden.“
Er reichte Emma eine alte Ausgabe der Fleischbanker Zeitung. Das Papier war vergilbt, und das Datum darauf war kaum lesbar – der 24. Dezember 1953. Emma nahm die Zeitung erstaunt entgegen. „Woher haben Sie das?“ fragte sie, aber der Mann lächelte nur geheimnisvoll. „Lesen Sie,“ sagte er und deutete auf eine Ecke der Titelseite.
Neugierig begann Emma zu lesen. Es war die Geschichte eines kleinen Jungen namens Jakob, der in jenem Winter vor genau 80 Jahren ein verlorenes Paket auf einem vereisten Gehweg gefunden hatte. Das Paket enthielt eine wunderschöne, handgeschnitzte Holzkrippe, die für die Kirche der Stadt bestimmt war. Jakob, selbst arm und barfuß unterwegs, hatte es durch Schnee und Eis zur Kirche gebracht. Der Artikel beschrieb, wie sein selbstloses Handeln die Gemeinde inspirierte und eine lange Tradition des Teilens und Gebens in Fleischbank begründet hatte.
Emma war fasziniert. Wie konnte diese Zeitung plötzlich hier auftauchen? Sie blickte auf, um den Fremden zu fragen, aber er war verschwunden. An seiner Stelle lag nur ein kleiner Federanhänger auf dem Schreibtisch.
Emma wusste, dass dies die Geschichte war, die sie gesucht hatte. Sie schrieb einen Artikel über Jakob, die alte Zeitung und die Magie, die selbst in den kältesten Wintern Herzen erwärmen kann. Als die Glocken der Kirche Mitternacht schlugen, lieferte sie die Weihnachtsausgabe der Zeitung aus. Jede Ausgabe wurde sorgfältig in den Briefkasten gesteckt und Emma freute sich schon auf die Reaktionen ihrer Leser*innen.
Am nächsten Morgen staunten die Leser*innen. Viele hatten Erinnerungen an Jakob, die Krippe und den Winter vor 70 Jahren. Doch niemand konnte sich daran erinnern, dass diese Geschichte jemals in der Zeitung gestanden hatte.
Am Abend ging Emma hinaus, um die Weihnachtslichter zu bewundern. Sie trat auf eine vereiste Straße und verlor das Gleichgewicht, doch bevor sie fiel, spürte sie, wie jemand sie sanft auffing. Sie drehte sich um, aber niemand war da – nur das Schimmern von etwas Goldenem in der Luft. In ihrer Tasche fand sie einen kleinen Zettel: „Manchmal braucht es nur ein wenig Glatteis, um ein Wunder zu erkennen. Frohe Weihnachten, Emma.“
Emma lächelte. Vielleicht war er ein Engel gewesen, vielleicht nur ein Fremder – aber die Magie der Weihnachtszeit hatte sie fest in ihrem Bann. Sie wusste eines ganz sicher: Die besten Geschichten schrieb das Leben selbst.