Tagebuch

Adventskalender: Die besten Kurzgeschichten und co.

Geschrieben von Schüler*innen des RMG, stellen wir sie euch an jedem Schultag im Dezember vor: Die besten Kurzgeschichten, Gedichte und co.


Noah

Er war zu spät. Wie hatte das nur passieren können? Langsam fließt eine Träne über seine Wange. Sie bahnt sich unaufhaltsam ihren Weg, an seinem Mund entlang bis sie mit einem leisen Ploppen auf den kalten Betonboden unter seinen Füßen auftrifft. Zu spät. Alles vorbei. Während er auf das schwarze Meer und den am Horizont verglühenden Ball der Sonne blickt, denkt er an die vergangenen Stunden zurück.Mit wie viel Hoffnung war er doch erfüllt gewesen!

 

Leise und gleichmäßig brummte der Motor des Bootes dahin. Zufrieden blickte Noah vom GPS-Gerät auf und richtete seinen Blick nach vorne. Und da, ja da vorne, da war wahrhaftig Land. Land in Sicht! Innerlich jubelte er und und dieser Jubel brach mit einem lauten Freudenschrei aus ihm heraus. Es tat gut zu wissen, dass er in einer Stunde nach langen Jahren endlich wieder an Land sein würde, in der Zivilisation, in der Kultur. Er würde andere Menschen sehen, lange vermisste Gerüche riechen und endlich wieder den Geschmack von frischen Bananen auf der Zunge haben. Sein kleines Motorboot hielt geraden Kurs auf das Festland, das so verlockend am Horizont erschienen war. Das Meer war still und die Sonne strahlte vom Himmel. Noahs Motorboot war das einzige Schiff weit und breit. Und das am viel belebten Horn von Afrika. Doch dem Mann mit den grauen Haaren fiel das überhaupt nicht auf. Zu seiner Vorfreude hatte sich noch ein anderes Gefühl gemischt: Stolz. Ja, er war tatsächlich stolzauf  das, was er die letzten Jahre vollbracht hatte und nun freute er sich auf das Lob und die Ehre, die ihm zuteil werdenwürden.

Langsam bildeten sich aus der grünen Landmasse am Horizont Konturen heraus. Berge und Buchten und ja, da hinten, das war doch der Tafelberg von Kapstadt. Noch immer war das Meer menschenleer, doch Noah hatte nur Augen für das näherkommende Ufer. Dort, das musst schon der Hafen seinund dort die Neubausiedlung und dahinten das Strandhotel….Als das Boot die Hafenbucht erreichte, dröhnte das Motorengeräusch vom Ufer zurück. Sonst war es still. Zu still. Noah hob langsam den Kopf vom GPS- Gerät und blickte sich um. Was war hier nur los? Warum war es so still? War etwa ein Krieg ausgebrochen? Doch schon verwarf er den Gedanken wieder, sicherlich hatten die Stille und die Leerenichts zu bedeuten. Er konzentrierte sich wieder auf das Steuern.

Und dann stand er am Ufer. Doch statt einem berauschendenGefühl empfand er nur Erstaunen. Erstaunen und Angst, Verzweiflung und Enttäuschung. Allein stand er dort, seine kleine, gebeugte Gestalt auf dem grauen Beton des Anlegerswie ein Schmutzfleck auf dem weißen Hemd. 50 Meter im Landesinneren begann der Urwald. Dort, wo früher Containerterminals und Hafenbars, Wohnhäuser und Geschäftsgebäude gewesen waren, war nun ein dichtes Grün. Vogelgezwitscher drang an seine Ohren und kühle, frische Luft wehte aus Kapstadt heran. Dem ehemaligen Kapstadt, das nun nicht mehr als Stadt erkennbar war. Noah kam sich nun auch vor wie ein Schmutzfleck. Einsam und verlassen. Seine Schultern sackten noch ein Stück weiter nach unten. Wo wardie Stadt? Wo die Zivilisation? Wo die Menschen? Ja, wo wardie Menschheit? Er ließ sich am Hafenkai nieder, ließ die Beine über die Kante baumeln und ließ seinen Gefühlen freien Lauf. Während er hinausblickte auf das stille Meer und den klaren Himmel, die frische Luft einatmete und die Stille auf seiner Haut fühlte, begriff er, was passiert war. Er war zu spät gekommen. Zu spät. Nun war alles vorbei. Es hatte sich schon seit Jahren angedeutet, doch er hatte immer geglaubt, er könnte es noch verhindern. Er hatte gekämpft, hatte alle Entbehrungen auf sich genommen, hatte fast sein ganzes Leben geopfert. Er hatte die Lösung gefunden. Vergebens… Nun war es zu spät. Rhythmisch schlugen die Wellen gegen sein Boot, gleichmäßig und beständig schaukelte seine letzte Verbindung zur Zivilisation auf den Wellen des unendlichen Ozeans. Er könnte weiter nach Windhuk fahren, nachLissabon, nach New York… es würde nichts verändern. Es war so weit. Er wusste, er war der letzte Mensch. Der Letzte seiner Art. Allein und einsam. Und mit ihm würde die menschliche Rasse aussterben. Die Krankheit Menschheit würde den Planeten Erde endgültig verlassen. 

Langsam sank die Sonne dem Horizont entgegen und Noahdachte zurück an die vergangenen Jahre. 

Er konnte sich nicht mehr erinnern, vor wie vielen Jahren er den Hafen von Kapstadt in Richtung Süden verlassen hatte. Er wusste nur noch das Datum: Es war der 18. Mai 2025 gewesen. Er wusste es noch genau, den an diesem Tag hatte der Tod von Joe Biden weltweit Bestürzung hervorgerufen. Doch was zählte dieses Datum heute noch? Was war es noch wert, diese erfundene Zeitangabe, in Zeiten, in denen die Erfinder nicht mehr waren? Damals bedeuteten Minuten noch etwas, jede Sekunde war durchgeplant gewesen. Auch er hatte auf die Erlaubnis der zuständigen Lotsen warten müssen, um den Hafen verlassen zu dürfen. Drei Tage später war er am Ziel seiner Reise angekommen: Der Forschungsstation Spes 2000. Anfangs hatte er noch zusammen mit zwei seiner Kollegen, einer jungen Frau und einem älteren Physiker Eisbohrkerne gesammelt, um Klimadaten zu rekonstruieren. Eines Tages dann war ihm eine Besonderheit im Eis aufgefallen. Eine kleine Unregelmäßigkeit nur, doch sie konnte von unmessbarer Bedeutung sein. Seit diesemZeitpunkt war er vom Entdeckerfieber gepackt. Er dachte zurück an diese Tage, an denen er sich in sein Laboreingeschlossen hatte und gearbeitet hatte. Er hatte fast nicht geschlafen, fast nicht gegessen, fast keinen Kontakt, ja eigentlich gar keinen Kontakt, zu seinen Mitbewohnern gehabt. Und dann war der Tag, an dem sie eigentlich nach Kapstadt zurückkehren sollten, gekommen. Ihre Mission war beendet und eigentlich hatte er sich auf die Rückkehr gefreut gehabt. Doch damals schon hatte er gewusst , wie nah er der Lösung war. So nah! Er war also geblieben; allein. Und nun war er wieder allein. Er saß am Kai und blickte hinaus auf das Meer und den glutroten Feuerball, der im Westen dem Horizont immer näher kam. Jahrelang war er allein gewesenund nun war er es wieder. Seine Entdeckung, die er zum Wohl der ganzen Menschheit gemacht hatte, war nun umsonst. 

Er stand auf, ließ sich in sein Boot hinab und kramte nach seinem Koffer. Es war ein schwerer Bleikoffer und nur mit Mühe schaffte es Noah, ihn auf den Beton zu hieven. Er dachte daran, welches Glück er gehabt hatte, als er auf der Forschungsstation noch einen Bleikoffer gefunden hatte. Wieer sich gefreut und das Boot, das all die Jahre ungenutzt neben der Station gelegen hatte, in Stand gesetzt hatte. Wie er dann, vor nicht einmal drei Stunden das erste Mal Land erblickt hatte. Und jetzt stand er allein mit dem Koffer da. Dem Koffer, in dem sich das verbarg wonach die Menschheit seit dem ersten Bericht des Club of Rome gesucht hatte: Die Erfindung um den Klimawandel zu stoppen. Alle Probleme der Menschheit wären mit einem Schlag erledigt gewesen, alle Zukunftsangst vergessen und alle Fehler getilgt. Er hatte eine Möglichkeit gefunden, Energie bereitzustellen, die klimaneutral und doch nicht von Sonne und Wind abhängig war. Das größte Problem der Menschheit wäre nur noch ein dunkler Schatten gewesen. Doch es sollte nicht sein. Der Klimawandel war ihm, Noah, zuvorgekommen. Er wusste nicht, wie lange die menschliche Rasse schon ausgestorben war, aber es konnte noch nicht allzu lange her sein, dass sie den Kampf gegen Hitzewellen und Dürre, gegen Überflutungen und steigende Meeresspiegel aufgeben hatte müssen. Noah fühlte tief in sich einen Schrei aufsteigen, einen Schrei der Verzweiflung, der Enttäuschung und der Wut. Wut auf die Zeit, die ihn am Ende besiegt hatte. Die die ganze Menschheit besiegt hatte. Wut auf das Schicksal, das ihn so betrogen hatte. Wozu hatte er all die Jahre gearbeitet? Wozu hatte das Schicksal ihm die Lösung geschenkt, wenn sie dann doch umsonst war? Hilfesuchend richtete er den Blick in den Himmel, der untergehenden Sonne hinterher.

Und dann bricht die Nacht herein. Eine friedliche Nacht. Sie ist so friedlich wie noch keine Nacht zuvor. Kein Motorengeräusch durchbricht die Dunkelheit, kein Lichtschein und kein menschlicher Geruch. Lediglich der Wind in den Bäumen ist zu vernehmen, das Strahlen der Sterne zu sehenund ein sanfter Duft nach Erde und Blättern aus dembenachbarten Wald zu riechen. Noah blickt zu den unendlichen Sterne empor, seine winzige Gestalt steht alleineauf dem Kai, den Überresten der Menschheit. Es ist tiefer Frieden.