Angst
Mit einem letzten Würgen erstarb der Motor des blauen Renaults R4. Seufzend senkten sich die Stoßdämpfer und erschöpft machte der ganze Wagen Halt. Langsam fielen die Schneeflocken vom Himmel und die Kälte kroch in jede Spalte, als Franz die Autotür hinter sich behutsam ins Schloss fallen ließ. Was hatte ihm dieser Wagen schon für treue Dienste geleistet! Und wie passend und sympathisch wirkte er mit seinem Blau vor dem Weiß des Schnees und dem Grau der Berge. Es war, als wäre sein R4 das fehlende Stück gewesen, um diesen Anblick zu vervollständigen. Und das war gut so. Denn er benötigte den Wagen nicht mehr. Ein bisschen schmerzte es Franz schon, als er sein treues Auto ein letztes Mal auf der noch warmen Motorhaube tätschelte und sich abwandte um zu gehen. Um den bedeutungsvollsten Gang seines Lebens zu gehen. Langsam setzte er einen Fuß vor den anderen, erst langsam, dann immer schneller, bis sie liefen wie eine Nähmaschine. Und mit ihnen lief er. Er lief immer tiefer in den verschneiten Wald hinein, der sich vor ihm auftat. Frisch und kühl war die Luft des Waldes, doch aufgehetzt und unstetig waren seine Gedanken. Und mit jedem Schritt zögerte er mehr. War es wirklich die richtige Entscheidung gewesen? Ja, das musste sie sein. Und entschlossen setzte er seinen Fuß noch einen Schritt weiter. Aber traute er sich das auch wirklich zu? Ja, er traute es sich zu, schließlich war er ja kein Angsthase, wie andere Leute gerne von Ihm behaupteten. Behauptet hatten. Denn schon morgen würden sie keinen Grund mehr haben, so etwas zu postulieren. So ging der innere Kampf weiter und Fortuna weilte einmal dort, einmal hier. Da endlich war der Wald zu Ende und Franz trat auf eine freie Fläche, auf drei Seiten von Bäumen umgeben. Auf der vierten aber tat sich ein Abgrund auf, tief wie der Schlund der in die Hölle herabführte und steil wie die Eiger Nordwand. Ja wahrhaftig, so sah es aus. Und das war gut so. Entschlossen tat Franz noch einige Schritte näher auf die abprupt abfallende Kante zu und blickte hinab. Dort, weit unten, lagen ebenfalls grüne Wiesen, weite Wälder und glitzernde Flüsse und Seen. Ja, er war bereit. Er war bereit. Bereit. Franz wiederholte diese Wort in seinem Kopf wie ein kurz vor dem Ertrinken Stehender. Ja, er hatte den Mut. Er würde es schaffen und es endlich beenden; Dieses armselige Dasein. Nie hatte er etwas erreicht in seinem Leben, war seinen Mitmenschen mehr zur Last gefallen, als dass er ihnen Freude bereitet hätte. Und das alles nur, weil er sich nie etwas getraut hatte. Schon in der Grundschule hatte er sich nicht getraut, sich zu melden und die richtige Antwort zu sagen und als es darum ging, eine Tanzpartnerin für den Abschlussball zu finden, hatte er sich nicht einmal getraut seine Banknachberin zu fragen. Sein Leben war ein einziges Wegducken. Ja, die Leute hatten Recht, wenn sie von ihm als Angsthasen und Hosenschisser, ja sogar Versager sprachen. Er war einfach nicht mutig genug für diese Welt. Er hatte sogar Angst vor dem, was kommen würde. Noch einmal blickt er vorsichtig über die Kante hinab. Im vergangenen Jahr waren seine Freunde hier mit dem Fallschrim abgesprungen, nur er war oben geblieben, aus Angst. Heute aber wollte er es schaffen. Das wollte er sich selbst beweisen. „ Jetzt gibt es kein zurück mehr, sei einmal in deinem Leben mutig, beweise, dass du es könntest. Sie haben es mit Fallschirm gemacht, aber du hast den Mut, es ohne zu machen. Sei mutig!“ Und mit diesen Gedanken sprang er. Unter sich die Landschaft, neben sich die Luft und über sich den Himmel. Dann wurde es dunkel.
Langsam schlug Franz die Augen auf. Wo war er? War er endlich im Himmel angelangt? Langsam betrachtete er seine Umgebung. Sah so der Himmel aus? Er lag auf weichem, wattigen Schnee, neben ihm floss ein Fluss über vereiste Steine und über ihm ragten die verschneiten Gipfel der Berge auf, bis sie mit dem Blau des Himmels verschmolzen. Er lag auf einer Wiese, mit ausgebreiteten Armen und durchnässten Kleidern und um ihn herum fielen die Schneeflocken sanft zu Boden. Er hatte es geschafft! Er war tatsächlich gesprungen! Er hatte den Mut gehabt! Wie wunderbar! Mit einem Seufzer fiel all die Anspannung der vergangenen Jahre, ja seines ganzen Lebens von ihm ab. Er war mutig. Und es war nicht die Angst vor dem Sprung gewesen und die Angst vor seinen Mitmenschen und die Angst vor dem Versagen gewesen, die ihn bedrückt hatte, sondern es war die Angst vor dem Leben gewesen. Er hatte sich gefürchtet zu leben. Doch das würde sich ändern. Nun wusste er, das er den Mut hatte, ja sogar vielleicht mutiger als alle gewesen war, da er seine Angst offen gezeigt hatte.
Erst jetzt fiel ihm der Schmerz auf, der seinen Körper durchströmte. Gab es im Himmel so etwas wie Schmerz? Nein, er musste noch auf der guten alten Erde sein. Er konnte noch alles erreichen. Dann wurde es wieder dunkel.