Ganz besondere Weißwürste
Das Licht im Stall flackerte. Hinten in der Ecke standen der Bauer und seine Frau, gebeugt über etwas, das dort im Stroh lag. Und dort auf den gelben Halmen lag eine Kuh. Die Kuh, mit der Friedrich, der Bauer, eine Zucht beginnen und seinen Hof vor der Pleite retten wollte. Und neben dieser Kuh lag noch etwas, dort unten, zu Füßen der Bauersleute: Ein kleines braunes Bündel. Mit verzücktem Gesichtsausdruck blickte der Bauer auf dieses neue Leben dort vor seinen Füßen herab und füllte die Stille dieser Weihnachtsnacht mit seinen Worten: „ Schau Greta, unser erstes eigenes Kalb. Wir werden in eine goldene Zukunft starten.“ Glücklich lächelnd stimmte Greta seine Worten zu. Da fuhr plötzlich ein Windstoß in den Stall und die halboffene Tür scharrte quietschend über den Boden. Und schon blickten Mama und Papa zu uns rüber. Zu meiner Schwester Elisabeth, meinem Bruder Jake und mir. ZU mir blickte Mama ganz besonders. „Was macht ihr denn hier? Ab mit euch ins Bett!“ tadelte Greta uns. „Aber das ist doch unser erstes eigenes Kalb. Und außerdem ist Weihnachten!“ „Lass sie doch“, beruhigend legte Papa seiner Frau einen Arm auf die Schulter „es stimmt, was sie sagen. Es ist doch Weihnachten.“ Mit einem Seufzer willigte Mama schließlich ein und wir traten näher, ja wir rannten fast. Aber nur fast. Denn schließlich wissen wir ja, dass man Tiere nicht einfach erschrecken darf. Elisabeth kuschelte sich eng an Mamas wärmenden Körper und blickte hinab auf das neue Leben, das dort im Stroh lag. Und ich und Jake mit ihr. Zu Fünft standen wir zwischen den hölzernen Wänden des Kuhstalls, unsere farbenfrohen Schlafanzüge verliehen der dunklen Nacht ein wenig mehr Humor und Helligkeit. Nach einer Zeit des Schweigens durchbrach plötzlich Elisabeths kindliche Stimme die Stille: „Es soll Maria heißen“.
Und so geschah es. Das Kalb wuchs heran, es wurde größer und frecher und jeden Tag spielten wir Kinder mit ihm. Es machte sowohl Mensch als auch Tier einen Heidenspaß über die Wiese zu tollen und sich im Dreck zu wälzen. Wie hätte meine Kindheit ausgesehen ohne Maria? Eines Tages war es soweit und Papa konnte sie das erste Mal melken. Mit einem Gefühl, dass nun nichts mehr schiefgehen könnte, blickte Friedrich stolz auf seine Kühe. Und ich auch. Zu alt für Puppen werden? Ja, sicher, das wurde ich. Aber zu alt für Maria? Nein.
Im Lauf der Jahre legte sich der Bauer von dem Gewinn, den er mit dem Milchverkauf machte, noch einen Ochsen zu. Der Hof wuchs und wuchs. Unsere Familie konnte ohne Sorgen leben leben und wir waren die glücklichsten Menschen auf diesem Planeten.
Aber eines Tages wurde alles anders. Noch besser. Eines Tages nämlich bekam Papa einen Anruf. Die Leiterin des Kinderheims aus der nächstgrößeren Stadt fragte an, ob sie denn mit einer Kindergruppe einmal den Hof besuchen könne. Die Kinder würden sich über den Kontakt mit den Tieren sicherlich freuen und vielleicht die Sorgen ihres sonst so schweren Lebens für ein paar Augenblicke vergessen können. Der Bauer stimmte zu. Mama und Ich hatten eifrig auf ihn eingeredet: „So würden die Kinder endlich aus ihrem tristen Alltag rauskommen, das wäre Werbung für unsere Hof,…“
Und so geschah es, dass eines schönen Tages im Mai eine Gruppe von Kindern mit dem Bus ankam. Ein lauter, stinkender Bus. Und ganz viele stille, bunte Kinder darin. Die Kinder waren so verschieden wie Steine an einem Fluss. Während die einen sofort auf den Ochsen zustürmten, hielten sich andere verlegen im Hintergrund. Und da tauchte plötzlich Maria auf, die inzwischen zu einer echten Kuh herangewachsen war. Auch das letzte Kind taute aus seiner Lethargie auf und streichelte glücklich über die weiche, warme Schnauze der Kuh. Am Abend verließ eine glückliche Gruppe junger Menschen unseren Hof und ließen mich mit einer Idee zurück. Was, wenn Maria eine Therapiekuh würde? Begeistert teilte ich meine Erkenntnis dem Rest der Familie beim Abendessen mit. Papa erkannte sofort den Nutzen, den Maria ihm als Therapeutin brachte und so wurde Maria zur Therapiekuh. Dem Hof ging es wirtschaftlich nun noch besser, die Therapiestunden mit einer Kuh zeigten bei vielen Leuten Erfolg und somit füllte sich auch die Kasse des Hofs. Maria gab weiterhin brav ihre Milch, gebar ein Kälbchen um das andere und versüßte hunderten, ach tausenden Menschen ihr Leben. Und mir ganz besonders.
Eines Tages in der Vorweihnachtszeit aber passierte ein Unglück. Während Elisabeth, meine Schwester, Maria über den Hof in den Stall führte, fuhr ein Kunde mit dem Auto in den Hof.
Die Reifen des Autos finden auf dem vereisten Grund keinen Halt und rutschen weg. Ich betrachte alles aus dem Fenster und sehe, wie das Auto unaufhaltsam auf meine Schwester zu gleitet. Elisabeth! Ich will schreien, doch da passiert dort draußen etwas. Maria stürmt los. Beschützend wirft sie sich vor Elisabeth und rettet das Mädchen so vor dem sicheren Tod. Doch plötzlich ist überall Blut. Elisabeths Blut? Meines? Ist das Blut überhaupt rot?
Doch für die Kuh kam alle Hilfe zu spät. Kläglich lag sie dort auf den grauen, kalten Pflastersteinen. Blut quoll aus ihrer Seite und befleckte den unschuldigen weißen Schnee, der die Landschaft leicht überzuckert hatte.Ich rannte nach draußen, wie losgelöst aus meiner Schockstarre. Weinend warf ich mich neben Maria auf den Boden wo auch schon meine Schwester kniete. Mama, Papa und auch der Autofahrer stürmten bestürzt herbei. Während Mama uns in die Arme nahm, redete der Autofahrer geschockt auf Friedrich ein. Nachdem Papa mit ihm alles geklärt hatte, gab er dem Schlachter Bescheid.
Am Weihnachtsabend saß die ganze Familie um den Esstisch versammelt. Der tragische Unfall lag nun schon einige Wochen zurück und alle versuchten dieses Fest möglichst unbeschwert zu feiern. Auf dem Tisch stand, zwischen der Schüssel mit Kartoffelsalat und der Karaffe mit Wasser, eine große Terrine mit Weißwürsten. Ganz besonderen Weißwürsten. Still und genießerisch verzehrten alle die Würste und nach dem Essen waren sie sich einig: Das waren die besten Weißwürste, die sie je gegessen hatten!