„Der Geist der Weihnacht“
Seit zwei Jahren hat dieses Fest für mich keinen Funken mehr von dem Glanz, den andere darin sehen. Die Lichterketten, die kitschigen Filme, der Duft nach Zimt – alles fühlt sich an wie ein schlechter Witz. Seit Papa gestorben ist, ist Weihnachten nur noch ein weiterer Tag, den man irgendwie überstehen muss.
Heute Morgen hat meine Mutter wieder versucht, mich zum Schmücken des Baumes zu bewegen. „Mia, es wäre schön, wenn du...“, hatte sie vorsichtig angesetzt, aber ich hab sie mit einem Schulterzucken abgewimmelt und mich in mein Zimmer zurückgezogen. Soll sie doch alleine schmücken, wenn es ihr so wichtig ist.
Der Nachmittag schleppte sich dahin. Es fing an zu schneien, dicke weiße Flocken, die sich auf den kahlen Ästen vorm Fenster sammelten. Früher hätte ich so etwas wunderschön gefunden. Heute? Es war einfach nur weißer Lärm. Es hätte genauso gut regnen können. Oder die Sonne scheinen. Ich zog mir die Decke über den Kopf und hoffte, dass der Tag möglichst schnell vorbei sein würde.
Dann klingelte es. Zuerst ignorierte ich das Geräusch, aber die Neugier gewann schließlich. Ich schlich mich zur Tür und lauschte, wie meine Mutter mit jemandem sprach. Eine Männerstimme, tief und leise, fast wie ein Flüstern. Dann hörte ich das Scharren von Holz auf Fliesen, und die Tür fiel ins Schloss.
„Was war das?“ fragte ich, als ich in die Küche trat. Meine Mutter stand vor einer großen, staubigen Holzkiste. Ihre Hände zitterten, als sie den Deckel vorsichtig anhob.
„Keine Ahnung“, sagte sie leise. Ihre Augen glänzten feucht. „Der Mann hat gesagt, es ist für dich.“
„Für mich?“ Misstrauisch beugte ich mich über die Kiste. Darin lag eine alte mechanische Krippe, kunstvoll geschnitzt und voller winziger Zahnräder, die scheinbar in alle Richtungen liefen. Eine der Figuren – ein Engel mit ausgebreiteten Flügeln – war schief, ein Zahnrad baumelte lose an einem dünnen Draht.
„Was soll ich damit?“ Ich war irritiert. Wer bringt so etwas? Und warum mir?
„. Ein alter Mann. Ziemlich verschroben. Er meinte, du könntest sie reparieren.“
Ich lachte trocken. „Ich bin doch keine Uhrmacherin.“ Aber irgendetwas an der Krippe ließ mich nicht los. Vielleicht war es die Handwerkskunst oder die Erinnerung an all die Nachmittage, die ich als Kind mit Papa in seiner Werkstatt verbracht hatte. Seine Stimme hallte in meinem Kopf: „Mia, die Details machen den Unterschied.“
Ich setzte mich widerwillig an den Küchentisch, zog eine Schreibtischlampe heran und begann, das Puzzle zu entschlüsseln. Meine Finger fanden nach und nach in einen Rhythmus, ein Zahnrad nach dem anderen fügte sich wieder ein. Die kleine Mechanik erwachte Stück für Stück zum Leben. Als ich den Engel richtete und das letzte Zahnrad einrastete, summte die Krippe leise. Dann begannen die Figuren zu marschieren – Maria, Josef, die Hirten. Der Engel erhob sich, seine Flügel schwebten sanft, während eine Melodie erklang.
„Oh mein Gott“, hauchte ich. Es war mehr als eine Krippe. Es war ein kleines Wunder.
Plötzlich klingelte es wieder. Diesmal öffnete ich die Tür selbst. Doch niemand war da. Nur ein Umschlag lag auf der Fußmatte. Meine Finger zitterten, als ich ihn aufriss. Darin war ein altes Foto von Papa, aufgenommen in seiner Werkstatt. Neben ihm stand eine fast identische Krippe. Auf der Rückseite stand in seiner Handschrift: „Für meine Mia – ein letzter Weihnachtsgruß.“
Ich konnte nicht atmen. Meine Knie gaben nach, und ich sank auf die Schwelle. Die Kälte des Bodens war das Einzige, was mich in der Realität hielt. Tränen liefen über mein Gesicht, und plötzlich fühlte sich Weihnachten nicht mehr nur grau und schwer an. Es war, als hätte Papa mir einen Funken von dem Licht zurückgegeben, das ich verloren hatte.